DEDeutsch Text
Chana Freundlich
Videoinstallation, Filmscreening und Talk
19. und 20. Oktober 2024
Wenn ich einen Jüdischkeitsanfall bekomme, suche ich nach Läden, in denen ich davon umgeben bin. Der nächste Laden ist 100 km entfernt. Es gibt nur Lebensmittel. Keine Grußkarten zu Pessach, keine Dreidel, die Musik machen. Ich suche zwischen den Regalreihen und finde eine trockene Packung Matzemehl. Ich nehme sie.
Teile meiner Familie versteckten sich während der Nazizeit in und um Berlin…und überlebten. Eine Mutter mit Kind, das Kind oft alleine gelassen bei Fremden, die alten Großeltern gemeinsam, der verlassene Ehemann. Inmitten einer Gesellschaft von Nachbarn, die lachen, feiern und denunzieren, lebten sie unsichtbar im Versteck und offen im Alltag – mit falschen Identitäten. Ihr Überleben hat mich geprägt. Weil sie anstrengend waren, rücksichtslos, stur. Sie brachten die Menschen um sich herum zur Verzweiflung.
Meine Oma Hella ging später nicht fort. Sie blieb mit den Nachbarn zurück – kein judenfreies Deutschland. Sie drehte ihre Chanukkiah um: Made in … . Sie sagte, früher gab es das auch im Deutschen Reich zu kaufen. Ich wälze im Archiv drei dicke Adressbücher von jüdischen Geschäften in Berlin.
Mindestens 15 Helfer*innen und Verstecke brauchte es in der Illegalität pro Mensch. Ich suche ihre Verstecke und treffe die Nachbarn an. In ihrer Sprache stapeln sich die Vorstellungen ihrer Familien, das Nicht-gesprochene, das Ungeübte. ZwangsarbeiterInnen werden spazieren geführt, Amerikaner klauen das Geld der Nazis und gefeiert werden die Menschen der ersten Stunde. Der langjährige Helfer Fritz Kittel schwieg. Er erzählte lieber nicht, dass er zwei Menschen das Leben rettete. Ist er ein Held? Bei dem Besuch seiner Familie betrete ich Orte, die schon lange keinen Juden mehr gesehen haben. In solchen Räumen verbrachte ich meine Kindheit.
von Chana Freundlich in Zusammenarbeit mit Gerhard Schick (Film) und Anton Kaun (Musikvideo)
Samstag, 19.10.2024
Videoinstallation, Open Doors ab 15 Uhr
Artist Talk mit Chana Freundlich ab 18 Uhr
Chana Freundlich sucht Untertage, in Erinnerungsstücken oder im Volkspark nach den Verstecken ihrer Familie, die die Nazi-Zeit überlebte. Sie findet eine Helfersfamilie, einen Nazi-Hunter, einen Historiker, einen Pressesprecher und einen Touristenführer. In der Video basierten Ausstellung durchdringen Nicht-Gezeigte Bilder das Gesehene. Stimmen ihrer Familie schwingen unterschwellig mit und verschmelzen mit Räumen auf einer digitalen Karte.
Sonntag, 20.10.2024
Videoinstallation, Open Doors ab 11 Uhr
Filmscreening „Mein illegales Leben“ von Gerhard Schick, 14 Uhr
Anschlussgespräch mit Gerhard Schick und Chana Freundlich
Moderation: Sapir von Abel
Eintritt frei
Mein illegales Leben
Ein Film von Gerhard Schick
„Die Stadt schlief, es war eisig kalt und unablässig schneite es. Nichts, außer dem Puppenwagen, der wenige Habseligkeiten meines Kindes barg, führten wir mit uns. Zuerst machten wir bei Ebert, Schönhauser Allee, halt.“
– Aus Hella Zacharias ́ Bericht an die Entschädigungsbehörde
Winter 1942: Hella Zacharias hält den Deportationsbescheid der Gestapo in den Händen. Sie nimmt ihren ganzen Mut zusammen und taucht mit ihrer 5-jährigen Tochter Hannelore in den Berliner Untergrund ab.
In den kommenden Monaten wird sie sich bei wohlwollenden Bekannten, Helfern, in Kellern und in Parks vor der Verfolgung der Nazis verstecken. Immer wieder werden Mutter und Tochter denunziert und müssen Hals über Kopf das Versteck wechseln.
1944 leben sie unter falschem Namen in einem Haus in Sorau / Żary im heutigen Polen. Im selben Haus wohnt der Bahnarbeiter Fritz Kittel. Während sein Arbeitgeber, die Deutsche Reichsbahn, Millionen in den Tod schickt, trifft Fritz Kittel eine mutige Entscheidung: Er versteckt Hella in seiner Wohnung und gibt ihre Tochter Hannelore als seine Nichte aus. Die Rettung gelingt.
In ihrer Kindheit hat Chana Freundlich, Enkelin von Hella Zacharias, immer wieder den Namen Fritz Kittel gehört. Doch sie ist ihm nie begegnet und wusste nicht, was aus ihm geworden ist. Schließlich entscheiden sich ihre Mutter Esther Dischereit und Chana dass sie endlich wissen wollen, was aus dem Retter ihrer Familie geworden ist. Mit dieser Suche beginnt der Film, eine Suche nach den fehlenden Splittern der Familiengeschichte und der eigenen Identität.
Chana Freundlich studierte an den Universitäten in Heidelberg und Berlin. Nach ihrem Masterabschluss in Zukunftsforschung nahm sie ihre Arbeit beim Landesverband Deutscher Sinti und Roma in Baden-Württemberg (VDSR-BW) als Referentin auf. Sie war Teil des kuratorischen Komitees Tribunal NSU-Komplex auflösen, das 2017 im Schauspiel Köln, 2018 in der Kunsthalle Mannheim und 2022 im Staatstheater Nürnberg an die Öffentlichkeit trat. Im Rahmen einer Residency auf dem Theaterfestival Schwindelfrei in Mannheim entwickelte sie 2020 zusammen mit dem Kunstkollektiv „Unser Land.Punkt.“ den gleichnamigen Audiowalk. Chana Freundlich ist Mitherausgeberin und Fotografin des Buchs Ein Blick in die Küche der Sinti und Roma Europas: Romno Chabpen (Edition Faust, 2020).
ENEnglish Text
Chana Freundlich
Video installation, film screening and talk
October 19 and 20, 2024
When I get a Jewish fit, I look for stores where I’m surrounded by them. The nearest store is 100 km away. There is only food. No greeting cards for Passover, no dreidel playing music. I search between the rows of shelves and find a dry packet of matzo meal. I take it.
Parts of my family hid in and around Berlin during the Nazi era…and survived. A mother and child, the child often left alone with strangers, the elderly grandparents together, the abandoned husband. In the midst of a society of neighbors who laugh, celebrate and denounce, they lived invisibly in hiding and openly in everyday life – with false identities. Their survival left its mark on me. Because they were exhausting, ruthless, stubborn. They drove the people around them to despair.
My grandma Hella didn’t leave later. She stayed behind with the neighbors – no Jew-free Germany. She turned over her Hanukkiah: Made in … . She said it used to be available in the German Reich too. I pore through three thick address books of Jewish stores in Berlin in the archives.
It took at least 15 helpers and hiding places per person during the illegal period. I look for their hiding places and meet the neighbors. The ideas of their families, the unspoken, the unpracticed pile up in their language. Forced laborers are taken for a walk, Americans steal the Nazis‘ money and the people of the first hour are celebrated. Long-time helper Fritz Kittel remained silent. He preferred not to say that he had saved the lives of two people. Is he a hero? When I visit his family, I enter places that haven’t seen a Jew for a long time. I spent my childhood in rooms like this.
by Chana Freundlich in collaboration with Gerhard Schick (film) and Anton Kaun (music video)
Samstag, 19.10.2024
Video installation, Open Doors from 3 pm
Artist Talk with Chana Freundlich from 6 pm
Chana Freundlich searches underground, in memorabilia or in Volkspark for the hiding places of her family, who survived the Nazi era. She finds a family of helpers, a Nazi hunter, a historian, a press spokesman and a tourist guide. In the video-based exhibition, images that are not shown permeate what is seen. Voices of her family resonate subliminally and merge with spaces on a digital map.
Sonntag, 20.10.2024
Video installation, open doors from 11 am
Film screening „My illegal life“ by Gerhard Schick, 2 pm
Follow-up discussion with Gerhard Schick and Chana Freundlich
Moderation: Sapir von Abel
Free admission
My illegal life
A film by Gerhard Schick
„The city was asleep, it was freezing cold and it snowed incessantly. We had nothing with us except the doll’s pram, which contained a few of my child’s belongings. First we stopped at Ebert, Schönhauser Allee.“
– From Hella Zacharias ́ report to the compensation administration
Winter 1942: Hella Zacharias holds the deportation order from the Gestapo in her hands. She plucks up all her courage and goes underground in Berlin with her 5-year-old daughter Hannelore.
Over the next few months, she hid from Nazi persecution with sympathetic acquaintances and helpers, in cellars and parks. Mother and daughter were repeatedly denounced and had to change their hiding place at the drop of a hat.
In 1944, they were living under a false name in a house in Sorau / Żary in present-day Poland. Fritz Kittel, a railroad worker, lived in the same house. While his employer, the Deutsche Reichsbahn, sends millions to their deaths, Fritz Kittel makes a courageous decision: he hides Hella in his apartment and passes her daughter Hannelore off as his niece. The rescue succeeds.
In her childhood, Chana Freundlich, granddaughter of Hella Zacharias, repeatedly heard the name Fritz Kittel. But she never met him and had no idea what had become of him. Finally, her mother Esther Dischereit and Chana decide that they finally want to know what happened to their family’s savior. The film begins with this search, a search for the missing pieces of their family history and their own identity.
Chana Freundlich studied at the universities of Heidelberg and Berlin. After completing her master’s degree in futurology, she began working as a consultant for the State Association of German Sinti and Roma in Baden-Württemberg (VDSR-BW). She was part of the curatorial committee Tribunal NSU-Komplex auflösen, which went public in 2017 at Schauspiel Köln, 2018 at Kunsthalle Mannheim and 2022 at Staatstheater Nürnberg. As part of a residency at the Schwindelfrei theater festival in Mannheim in 2020, she developed the audio walk of the same name together with the art collective „Unser Land.Punkt.“. Chana Freundlich is co-editor and photographer of the book Ein Blick in die Küche der Sinti und Roma Europas: Romno Chabpen (Edition Faust, 2020).